Der Wunsch nach Authentizität ist genauso verbreitet wie der Wunsch nach Weltfrieden bei einem Schönheitswettbewerb – und vielleicht genauso naiv. Denn was zunächst völlig nachvollziehbar anmutet, erweist sich bei näherem Hinsehen als tückisch. Man muss aufpassen, dass man dem Authentisch-Sein nicht in die Falle geht.
In einer Welt voller aufpolierter Instagram-Fotos und aalglatter Berufspolitiker erscheint das Authentische als neuer Messias. Noch vor zehn Jahren ergab der Suchbefehl „authentisch“ lediglich 1 Million Treffer bei Google. Heute sind es über 10 Millionen! Eine ganze Legion an Ratgebern buhlt um die Leserschaft mit Slogans wie: „Finde heraus, wer du eigentlich bist“; „Hör mit dem Vergleichen-Quatsch auf“; „Nimm dir ein Beispiel an Kindern“; „Zeige deine wahren Gefühle“.
Ehrlichkeit und Eigenständigkeit sollen vom Anpassungsdruck befreien, Zuverlässigkeit garantieren und den Menschen das Vertrauen in sich selbst zurückgeben. Man selbst sein, keine Kompromisse machen, auf sein Herz hören – das hört sich alles gut an. Doch erweist sich der Versuch, authentisch zu sein, nicht selten als Bumerang. Warum, und wie du es trotzdem schaffst, dich nicht zu verbiegen, erfährst du hier:
4 GRÜNDE, NICHT AUTHENTISCH ZU SEIN
1. Weil jeder drei Gesichter hat – mindestens!
Ein japanisches Sprichwort besagt: „Jeder Mensch hat drei Gesichter.“ Je nachdem, mit wem wir zusammen sind oder wo wir uns bewegen, nehmen wir unterschiedliche Rollen ein. Im Büro übernehmen wir eine andere Rolle als bei einem Familienfest – und selbst in der Partnerschaft verhalten wir uns anders, als wenn wir allein sind. Und das ist auch gut so.
Selbstverständlich fühlt man sich daheim in der Badewanne authentischer als in einer Prüfungssituation. Doch auch solche Situationen gehören zum Leben; man kann ihnen nicht immer ausweichen. Vielmehr sollte man akzeptieren, dass verschiedene Rollen einzunehmen keine Entfremdung ist – es ist Teil unseres gesellschaftlichen Seins. Wichtig ist nur, dass wir die Rolle bewusst und mit Überzeugung einnehmen.
2. Weil es zu leicht ist, ein Stinkstiefel zu sein.
Wir lieben Kinder für ihre Authentizität. Wenn Erwachsene sich jedoch wie Kinder aufführen, dann wird das schnell befremdlich. Es hat nämlich durchaus einen Sinn, Gefühlsregungen nicht ungefiltert zu äußern oder seinen Kopf nicht mit aller Macht durchzusetzen.
Die Ehrlichkeit zu sich selbst ist keine Entschuldigung für Respektlosigkeit und fehlendes Verantwortungsgefühl. Im schlimmsten Fall kann die Suche nach dem „wahren Ich“ sogar dem Familienleben und der Partnerschaft schaden. Wie erstrebenswert ist aber Authentizität, wenn sie die Bedürfnisse der Menschen im Umfeld ausklammert?
3. Weil niemand etwas Besonderes sein muss.
„Erkenne dich selbst“ hieß in der Antike: Sei dir deiner Unvollkommenheit bewusst – ein Mensch ist kein Gott. Heute hingegen versprechen die Ratgeber Lebensglück und beruflichen Erfolg, wenn man nur gelernt habe, authentisch zu sein: „Vergleiche dich nicht mit anderen, sei einzigartig und echt!“
Aber kann man Authentizität lernen? Ist man noch authentisch, wenn man versucht, es zu sein? Die populäre Forderung nach Authentizität führt fast zwangsläufig zu Widersprüchen: Einerseits soll man sich nehmen, wie man ist; andererseits soll man mehr aus sich herausholen. Einerseits soll man aus der Masse herausstechen; andererseits geht es um Anerkennung.
Abgesehen davon sind Vergleiche mit anderen auch nicht grundsätzlich schlecht: Vorbilder geben einem Orientierung – und Menschen, mit denen wir uns identifizieren, vermitteln uns Gelassenheit. Vielleicht ist man manchmal ehrlicher zu sich selbst, wenn man sich eingesteht, einfach ein ganz normaler Mensch zu sein.
4. Weil Selbstbesinnung ein Hamsterrad ist.
Die Suche nach dem authentischen Ich kann zur Endlosschleife werden. Denn die Fragen „Wer bin ich? Was will ich?“ setzen ja voraus, dass man immer und in jeder Situation gleich ist. Letztlich setzt sich der Charakter eines Menschen aber aus zahlreichen Widersprüchen zusammen. Bei jeder relevanten Entscheidung konkurrieren unterschiedliche Interessen miteinander.
Anstatt nun zu versuchen, ein festes – aber dafür beschränktes – Bild von sich selbst zu entwerfen, sollte man lieber mit etwas mehr Offenheit auf die Welt zugehen.
WARUM MAN TROTZDEM AUTHENTISCH SEIN SOLLTE
Wie gesehen, ist Authentizität ein etwas weltfremdes Konstrukt. Es lässt sich in der Praxis kaum durchhalten. Ganz ohne Authentizität geht es aber auch nicht: Denn zweifellos sind Verstellung und Selbstverleugnung ebenso wenig wünschenswert.
Statt sich in einem unrealistischen und egoistischen Selbstfindungstrip zu verfangen, ist es wichtig, den Begriff des Authentischen umzustellen. Authentisch-Sein hat dann nichts mehr mit einem „inneren Kern“ zu tun, den man finden und verteidigen muss. Vielmehr geht es darum, Entscheidungen bewusst zu treffen, seine Stärken zu kennen – und vor allem: seine Schwächen zu akzeptieren.
Denn vielleicht wirkt ja gerade derjenige am authentischsten, der sich selbst nicht allzu wichtig nimmt und darum auch niemandem etwas vorspielen muss.
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Quellen: nzz, markuscerenak, brigitte
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