In öffentlichen Diskussionen wird immer wieder gern der „gesunde Menschenverstand“ eingefordert. Aber kann man dem gesunden Menschenverstand überhaupt trauen? Nein, natürlich nicht. Und dafür gibt es auch einen ganz bestimmten Schuldigen: das Gehirn!
Keine Frage, das menschliche Gehirn ist ein wahres Wunderwerk der Natur. Es hat nur ein Problem – es ist darauf ausgelegt, möglichst effizient zu arbeiten. Wo immer es geht, nimmt es Abkürzungen. Das führt unweigerlich zu systematischen Verzerrungen im Wahrnehmen, Erinnern und Urteilen. Denkfehler sind folglich nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall! Hier ein paar typische Beispiele, die fast jedem im Alltag begegnen:
1.) Der gute Einkauf
Das neue Smartphone ist sowohl in der Bedienung als auch in der Verarbeitung schlechter als das vorherige? Kein Problem! Unser Gehirn findet schon genügend Gründe, damit wir am Ende doch noch von dem Kauf überzeugt sind. Die positiven Aspekte werden herausgestellt, eventuelle Zweifel abgeschwächt.
Noch häufiger tritt das Phänomen freilich auf, wenn völlig unklar ist, ob man das bessere oder das schlechtere Produkt gewählt hat. Irgendwann schwört man auf seine Marke und sein Modell.
2.) Kontroll-Illusion
Beim Würfeln in die Faust pusten und sich angestrengt auf das gewünschte Augenpaar konzentrieren – das ist zwar sinnlos, macht aber jeder. Das Gehirn ist so sehr darauf aus, die Kontrolle über unseren Alltag zu haben, dass es den Faktor Zufall nur schwer akzeptieren kann.
Eine Variante dieses Phänomens ist es, wenn der Computer langsam arbeitet und man glaubt, ihn durch wildes Herumklicken auf dem Bildschirm motivieren zu können.
3.) Der geborene Chef
Viele Angestellte kennen das von ihrem Chef: keine Ahnung, aber zu allem eine Meinung. Eine Studie an der renommierten Cornell University bestätigt den Verdacht: Unwissenheit führt oft zu mehr Selbstvertrauen als Wissen. Gleichzeitig neigen unwissende Menschen dazu, die Fähigkeiten anderer nicht anzuerkennen.
Die Ursache dieses Effekts ist der, dass mit zunehmendem Wissen auch das Bewusstsein über die Komplexität der Dinge einhergeht. Wer viel weiß, hat darüber hinaus eine klarere Vorstellung über die Dimensionen dessen, was er noch nicht weiß.
4.) Im Hamsterrad der Entscheidung
Das Internet macht es möglich: Information im Übermaß. Dabei kommt es immer wieder vor, dass wir weiter nach Informationen suchen, obwohl wir unsere Entscheidung im Grunde längst gefällt haben. Testberichte werden zurate gezogen, Forumsbeiträge recherchiert, Excel-Tabellen angelegt – und am Ende wird es eben doch das Auto, Küchengerät oder Hotel, das einem von Anfang an am sympathischsten war.
Übrigens treffen wir mit weniger Informationen sogar die besseren Entscheidungen. Dann sind uns nämlich unsere Prioritäten bewusster und das Gehirn lässt sich weniger aufgrund von Überforderung von Marketing-Tricks beeinflussen.
5.) Welt voller Muster
Eine der Hauptaufgaben des Gehirns besteht darin, Ordnung in den chaotischen Strom von Eindrücken zu bringen. Das führt dazu, dass wir selbst dort Bilder, Formen und Gesetzmäßigkeiten entdecken, wo gar keine sind: Häuser haben Gesichter, die Umrisse von Italien befinden sich auf dem Toastbrot oder man ist nach zwei gescheiterten Beziehungen mit „Steinböcken“ überzeugt, dass Partner dieses Sternzeichens eine Katastrophe sind.
6.) Quelle des Erfolgs
Du wurdest befördert? Gratulation! Mit Sicherheit lag das daran, dass du so fleißig und kompetent bist. Oder nicht? Der Mensch neigt bei sich selbst dazu, Erfolge der eigenen Leistung zuzuschreiben, während er für Missgeschicke äußere Umstände verantwortlich macht.
Bei der Beurteilung seiner Mitmenschen ist das genau umgekehrt: Da glauben wir, dass der Kollege nur deshalb befördert wurde, weil er Glück oder die richtigen Beziehungen hatte.
7.) Ständig in den Nachrichten
„Die Welt wird immer gefährlicher.“ Die Behauptung klingt plausibel. Schließlich wird in den Medien ständig über Gewalt, Mord und Terror berichtet. Aber auch das ist ein typischer Denkfehler: Das Gehirn schließt von der Häufigkeit einer Berichterstattung auf die Häufigkeit des Ereignisses.
So gab es zum Beispiel zwischen 1970 und 1990 wesentlich mehr Opfer von Terroranschlägen in Europa als in den mittlerweile 28 Jahren danach – wir haben die damaligen Meldungen nur vergessen.
8.) Schöner Autofahrer
Wer schön ist, dem trauen wir auch zu, ein guter Autofahrer zu sein. Unser Gehirn leitet nämlich aus den bekannten Eigenschaften einer Person ab, dass ihre anderen Eigenschaften ähnlich sein müssen.
In der Schule wirkt sich dieser Effekt so aus, dass Lehrer die Tendenz haben, einen Schüler aufgrund einer offensichtlichen Schwäche im Fach Deutsch auch in Sachkunde etwas schlechter zu benoten.
9.) Gruppendenken
Ähnlich fatal ist die Neigung unseres Gehirns, Menschen, die derselben Gruppe angehören wie wir selbst, positiver einzuschätzen als andere. Je stärker wir uns mit einer Gruppe identifizieren, desto gravierender ist dieser Effekt.
Das geht teilweise sogar so weit, dass wir Straftaten anderer rechtfertigen, nur weil sie auf derselben Polizeidienststelle arbeiten oder Fans desselben Sportvereins sind wie wir.
10.) Selbsterfüllende Erwartung
„Der denkende Mensch ändert seine Meinung“, sagt Nietzsche und zielt damit auf einen schmerzhaften Punkt: Unser Gehirn muss sich geradezu zwingen, bestehende Einschätzungen zu widerrufen. In der Regel neigen wir nämlich dazu, nur die Informationen aufzunehmen, die unsere vorgefasste Meinung bestätigen. Wir sehen, was wir erwartet hatten.
Ist ein Vorurteil erst einmal fest genug verankert, deutet unser Gehirn sogar Fakten, die uns klar widerlegen, als Bestätigung der eigenen Überzeugung.
11.) Millionen Fliegen können sich nicht irren
Zwei Restaurants liegen direkt nebeneinander. Eines ist voll, das andere leer. Wohin gehst du? Genau: ins volle. Der Mensch ist intuitiv ein Mitläufer. Je mehr Personen etwas gut finden, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass andere diese Meinung übernehmen.
12.) Trügerische Erinnerung
„Ich hab’s doch gewusst!“, ruft der Sitznachbar im Fußballstadion. Der Underdog hat den Favoriten besiegt. Hat der Nachbar das Ergebnis aber auch tatsächlich vorausgesehen? Nicht unbedingt. Wir neigen nämlich dazu, unsere Erinnerung an das eingetroffene Ereignis anzupassen.
Womöglich hatte der Fußballfan vor dem Spiel nur eine vage Hoffnung. Jetzt ist er sich sicher, fest mit dem Sieg seiner Mannschaft gerechnet zu haben.
13.) Die Höhe des Gebots
Wie viel würdest du für bedrohte Seevögel spenden? Wenn man ein Gebot abgeben oder eine Zahl schätzen soll, orientiert sich unser Gehirn unwillkürlich an der Zahl, die es zuletzt gehört hat.
Fragt man eine Versuchsgruppe, ob sie bereit wäre, 5 Euro für Seevögel zu spenden, geben die Teilnehmer im Durchschnitt 20 Euro. Fragt man die Gruppe, ob sie bereit wäre, 400 Euro für Seevögel zu opfern, liegen die Gebote immerhin bei rund 150 Euro. Dasselbe klappt auch, wenn die Probanden unabhängig von der Frage vorab die Zahl 5 bzw. 400 genannt bekommen.
14.) Verzerrungsblindheit
Alles schön und gut, aber dich betrifft das alles nicht? Das ist wohl der größte Denkfehler! Die Forscher nennen ihn „Verzerrungsblindheit“: Man hält sich selbst für unbeeinflusst, rational und objektiv. Die Irrenden sind stets die anderen.
„Nichts auf der Welt ist so gerecht verteilt wie der Verstand. Denn jeder ist überzeugt, dass er genug davon besitzt.“ (René Descartes) Doch was geläufig als „gesunder Menschenverstand“ bezeichnet wird, ist meist genau sein Gegenteil: eine Ansammlung von Trugschlüssen, Vorurteilen und einseitigen Blickwinkeln.
Da du dir diesen Beitrag genau durchgelesen hast, weißt du jetzt immerhin, dass du deinem Urteil gegenüber skeptisch sein solltest. Und die Einsicht, dass man sich auch getäuscht haben könnte, hilft, die Zahl der Denkfehler zu reduzieren.