Sally Clark konnte sich kaum losreißen, so glücklich machte es sie, ihr Baby unentwegt anzusehen. Doch als sie diesmal nach ihm schaute, lag der elf Wochen alte Christopher leblos in seinem Bettchen. Die Diagnose: „Plötzlicher Kindstod“. Ein Jahr später, im November 1997, bekam die Britin erneut einen Sohn. Auch dieser starb aus unerfindlichen Gründen im Alter von gerade einmal acht Wochen. Da wurden die Behörden misstrauisch. Sally Clark wurde verhaftet und im Jahr 1999 des Mordes an ihren Kindern für schuldig gesprochen.
Das Urteil basierte jedoch auf zwei falschen statistischen Annahmen. Als der Irrtum 2003 aufgedeckt wurde, mussten allein in Großbritannien weitere 257 Fälle neu aufgerollt werden. All diese Mütter saßen aufgrund eines Statistikfehlers hinter Gittern!
Eine Statistik ist ein Werkzeug, das hilft, Ordnung in komplexe Zusammenhänge zu bringen. Doch wie ein Hammer kann sie in den falschen Händen erheblichen Schaden anrichten. Tagtäglich werden wir mit unzähligen Zahlen und Prozentangaben bombardiert – nicht selten sind darunter solche, die gezielt oder unbewusst täuschen. Das zu erkennen, ist selbst für Fachleute nicht immer leicht. Es gibt aber ein paar Signale, die einen stutzig machen sollten.
1.) „Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit …“
Der eine grobe Fehler, den der gerichtliche Gutachter im Fall von Sally Clark machte, war: Er hielt für unmöglich, was bloß – angeblich – sehr unwahrscheinlich war. Aber auch ein Lottogewinn ist unwahrscheinlich und trotzdem wird der Jackpot regelmäßig geknackt. Wenn eine Studie also etwas „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ behauptet oder ausschließt, sollte man genauer auf die Begründung achten.
2.) „Das lässt sich an einem simplen Rechenspiel zeigen.“
Der andere Schnitzer von Sallys Gutachter war, dass er die Wahrscheinlichkeit für zwei aufeinanderfolgende Fälle von Plötzlichem Kindstod genauso berechnete, wie zweimal hintereinander eine 6 zu würfeln. Doch das Leben ist kein Würfelspiel! Bestimmte Risikofaktoren, wie etwa eine genetische Veranlagung, vervielfachen in manchen Familien die Gefahr eines Plötzlichen Kindstodes. Eine Statistik, die sich mal eben schnell vorrechnen lässt, dient meist nur dazu, ein Vorurteil zu bekräftigen.
3.) „Kurven, Balken und Torten“
Grafische Darstellungen statistischer Ergebnisse sind sehr beliebt. Sie machen komplexe Zusammenhänge anschaulich, bleiben im Gedächtnis und werden in sozialen Netzwerken gern geteilt. Das macht sie anfällig für Manipulation und Propaganda. So wie man keinen blanken Zahlen glauben sollte, so sollte man auch Diagrammen ohne erläuternden Begleittext misstrauen.
Eine verdächtige Grafik erkennt man aber noch viel leichter: Je bunter und schicker sie ist, desto mehr will sie den Betrachter für sich einnehmen. Rote Farbe oder Fettdruck, um Gefahr zu signalisieren, hat nichts mit Wissenschaftlichkeit zu tun. Vor allem sollte die Grafik jedoch über eine genaue Quellenangabe verfügen, die sich nachvollziehen lässt.
4.) „Signifikanter Zusammenhang“
Jeder, der einen Computer hat, kann eine Statistik erheben. Man füttert einfach eine Excel-Tabelle mit Daten und lässt das Programm ausrechnen, ob zwischen den Daten ein Zusammenhang besteht. Dabei kommt immer wieder Erstaunliches heraus: So besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen Margarinekonsum und Scheidungsrate in den USA. In Wirklichkeit ist das bloßer Zufall. Je mehr Daten man hat, umso mehr Zufälle gibt es. Wer also auf der Signifikanz seiner Ergebnisse beharrt, macht sich verdächtig.
Beweisende Studien sind langwierig und anspruchsvoll – und werden deshalb leider weit seltener durchgeführt.
5.) „… kamen die Forscher zu einem überraschenden Ergebnis.“
Menschen mit großen Füßen verdienen mehr. Liegt das daran, dass große Füße Autorität ausstrahlen? Oder gibt es ein Erfolgs-Gen, das sich in Schuhgröße 45 ausdrückt? Die Statistik lässt sich belegen – und trotzdem ist sie Unsinn. Denn sie lässt einen wichtigen Faktor außen vor: das Geschlecht. Männer haben im Schnitt größere Füße als Frauen. Da Männer im Schnitt auch mehr als Frauen verdienen, überrascht die Statistik schon weniger. Wenn kuriose Ergebnisse sofort zu wilden Spekulationen führen, sollte man lieber noch einmal einen Blick darauf werfen.
6.) „… minimiert das Risiko um 50 Prozent!“
Vor allem die Pharmaindustrie greift gern auf einen alten Trick zurück. So besagt eine Studie, dass ein neues Medikament das Schlaganfallrisiko um 50 Prozent reduziert. Schaut man auf die absoluten Zahlen, sieht die Wirkung deutlich weniger spektakulär aus: Statt zwei Schlaganfällen je 100 Patienten war es nur noch einer. Die absolute Reduktion beträgt also lediglich 1 Prozent!
Seriöse Statistiken geben immer das Verhältnis von relativer und absoluter Wirkung an. Noch besser ist es, wenn Prozentwerte gleich in konkrete Zahlen übersetzt werden.
7.) „Die Deutschen lieben …“
„Die Fans des SC Freiburg sind superschlau“, titelten die Zeitungen. Ganze 73,4 Prozent von ihnen sollen einen Hochschulabschluss haben! Dabei liegt der Akademiker-Anteil in Deutschland gerade einmal bei 10,6 Prozent. Wie kann das sein? Die Statistik wurde von einem Karriereportal erhoben, das nur in Ausnahmefällen von Nicht-Akademikern genutzt wird. Verallgemeinernde Aussagen über die „Vorlieben der Deutschen“ oder die „Einstellung der Väter zum Thema Elternzeit“ sind aber nur dann brauchbar, wenn ganz klar ist, wer befragt wurde und ob diese Gruppe repräsentativ ist.
8.) „Überdurchschnittlich viele“
Abweichungen vom Mittelwert sind wenig aussagekräftig. Beispiel gefällig? Die meisten Menschen haben überdurchschnittlich viele Arme – weil manchen ein Arm fehlt. Zieht ein Milliardär in eine Stadt, steigt das durchschnittliche Einkommen sämtlicher Einwohner. Bei ernst gemeinten Statistiken wird lieber der sogenannte Median ermittelt. Hierbei werden alle erhobenen Werte aufsteigend geordnet und die Mitte gesucht. Das lässt sich zwar in einer Pressemitteilung nicht so griffig formulieren, einfache Schlagzeilen sind bei Statistiken aber ohnehin fragwürdig.
9.) „Jugendliche von Smartphone-Sucht bedroht“
Noch immer zittern Pädagogen und Eltern: Fast 300.000 Jugendliche sollen internetsüchtig sein! Aber was heißt das eigentlich? Bevor eine Statistik erstellt wird, muss man wissen, was man sucht. In jede Studie gehen somit Vorannahmen ein. Das Phänomen „Internetsucht“ bzw. „Smartphonesucht“ ist jedoch kein anerkanntes Krankheitsbild. Vielmehr steckt in dem Wort ein bestimmtes Weltbild: Häufige Internetnutzung sei schlecht. Studien, die mit solchen Wertungen spielen, sind unseriös.
Bei genauerem Hinsehen stellt sich denn auch heraus, dass die „süchtigen“ Jugendlichen 22 Stunden pro Woche online sind – dazu gehört auch das Musikhören über Streaming-Apps. Außerdem schauen die Betroffenen 16- bis 60-mal auf ihr Handy, was immerhin eine recht große Differenz ist. Nur eine winzige Gruppe zeigt tatsächlich Entzugserscheinungen, wobei unklar ist, ob hier nicht andere psychische Probleme die wahre Ursache sind.
10.) „Wer hat’s bezahlt?“
Spülmaschinen sind effizienter, als das Geschirr per Hand zu spülen. Zu diesem Ergebnis kamen Forscher der Uni Bonn. Finanziert wurde die Untersuchung von vier Haushaltsgeräte- und Spülmittelherstellern. Ein Zufall? Wohl kaum. Haben die Wissenschaftler also geschummelt? Das nicht, allerdings stecken in der Studie viele „Wenn und Aber“, die ihre Aussagekraft schmälern.
Die Bonner Wissenschaftler gaben ihre nur bedingte Unabhängigkeit immerhin zu. Bei vielen anderen Erhebungen sieht das anders aus. Man sollte daher immer prüfen, wer eine Statistik in Auftrag gegeben hat. Die meisten Studien, die in Internet und Presse kursieren, werden nämlich nicht ohne Hintergedanken verbreitet.
„Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“, sagt der Volksmund. Das klingt gut, hilft aber wenig. Denn wer will schon von einem Arzt behandelt werden, der nur über den Daumen peilt, ob das Medikament mehr Nutzen als Schaden bringt? Umfragen zeigen indes, dass die meisten Mediziner nicht in der Lage sind, elementare statistische Konzepte zu verstehen. Anstatt Statistiken insgesamt zu verurteilen oder blind zu vertrauen, sollte also lieber ein kritischer Umgang mit ihnen gepflegt werden.
Und wie ging es mit Sally Clark weiter? Sie konnte das Fehlurteil nie überwinden, das ihr die Möglichkeit raubte, um ihre Kinder zu trauern. Sie verfiel dem Alkohol und starb am 15. März 2007.